WOLFGANG SCHNEIDERHAN
Präsident des Volksbundes
Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Der Zweite Weltkrieg forderte über 60 Millionen Tote. Dieser verbrecherische Krieg ging 1939 mit dem Überfall auf Polen von Deutschland aus, dem beispiellose Verbrechen gegen die Menschheit folgten. Hierzulande bestimmen oft verzerrte Bilder die Erinnerung: die gestellte Szene, wie Soldaten einen Grenzbaum niederreißen, und Hitlers Reichstagsrede, die den Kriegsbeginn nicht nur falsch datiert, sondern die Kriegsschuld ins Gegenteil verkehrt.

Weit weniger bekannt sind die Bilder des in den ersten Kriegsstunden verheerend bombardierten Wieluń, das ähnlich wehrlos wie zuvor Guernica dalag. Weniger bekannt sind auch die Bilder, wie junge Soldaten orthodoxe Juden im Alter ihrer Väter demütigen, wie fast beiläufig angebliche Freischärler auf Marktplätzen hingerichtet werden. Und wenig bekannt sind die Bilder von den vielen Toten auf beiden Seiten.

Auf die mit der Sowjetunion vereinbarte Zerschlagung Polens folgte die systematische Ermordung polnischer Eliten und die Vertreibung und Ausbeutung unter NS-Besatzung. Jeder Sechste in der polnischen Bevölkerung wurde in diesem Krieg getötet. Und nur jeder Zehnte der großen jüdischen Gemeinschaft Polens überlebte die Schoah.

Die Beziehungen der deutsch- und polnischsprachigen Bevölkerung waren bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen angespannt. Im Zuge der deutschen Aggression verschärften sich die Übergriffe. Die rücksichtslose NS-Lebensraumpolitik zerstörte auf immer das multikulturelle Nebeneinander. Von Beginn an - und nicht erst mit seinem Ende - führte dieser Vernichtungskrieg zu einer unseligen Vertreibungswelle. Sie richtete sich zuerst gegen Polen, die von Deutschland und von der Sowjetunion deportiert wurden.

 

Vor dem Krieg gab es durchaus gute Nachbarschaft und mehrsprachige Familien. Polnisch war neben Russisch und Jiddisch auf den Straßen im Berlin der Vorkriegszeit oft zu hören, ebenso wie Deutsch in vielen Gemeinden oder auch Hörsälen quer durch Mitteleuropa.

»Im Wissen um die Geschichte: die eigene Verantwortung sehen und den anderen verstehen.«
WOLFGANG SCHNEIDERHAN

Wer sich diese Geschehnisse vor Augen hält, versteht, warum die Wunden bis heute so tief gehen und Fragen der Erinnerung im deutsch-polnischen Verhältnis so sensibel sind. Hier gilt es, die eigene Verantwortung zu sehen und zugleich die Perspektive des anderen zu verstehen.

Doch es gibt auch die so anderen Bilder: Studenten, die in Frankfurt/Słubice gemeinsam lernen, Soldaten, die gemeinsam Übungen abhalten – und gemeinsam Kriegsgräber pflegen. Auf Basis des bilateralen Kriegsgräberabkommens sucht und bettet der Volksbund Kriegstote im Land um. In der Volksbund-Begegnungsstätte Golm auf Usedom kommen junge Menschen zusammen, um aus dieser Geschichte
zu lernen.

Dies ist immer noch und gerade in unserer Zeit keineswegs selbstverständlich. Umso wichtiger ist die gemeinsame Erinnerung im europäischen Haus, gerade weil sie unterschiedliche historische Erfahrungen und aktuelle Blickwinkel nicht auf einen Nenner, aber immerhin in einen Dialog bringen kann. So steht der diesjährige Volkstrauertag im Gedenken an den Kriegsausbruch und die vielen Toten in dessen Folge, zugleich aber auch in der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in friedlicher Nachbarschaft.

Bekanntgabe der Feierstunden anlässlich des Volkstrauertages am Sonntag, den 17. November 2019 (PDF)