WOLFGANG SCHNEIDERHAN
Präsident des Volksbundes
Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Der diesjährige Volkstrauertag findet eine Woche nach dem 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges statt. 17 Millionen Menschen ließen in diesen Völkerschlachten zwischen 1914 und 1918 ihr Leben, die großen Kriegsgräberstätten in vielen Teilen Europas zeugen davon. Am 11. November 1918 kam diese Katastrophe an ihr Ende. Aber: Die Ruhe nach dem Sturm war, wie wir heute wissen, die Ruhe vor dem Sturm, der gut 20 Jahre später ein Vierfaches an Menschenleben kostete. Fassungslos angesichts des Leids der Menschen fragen wir uns, wie das geschehen konnte. Man war sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg doch bewusst, wie viele Opfer er gekostet, wie viel Elend er angerichtet hatte. Die Toten waren nicht vergessen. Im Gegenteil: Ihrer wurde gedacht, der Volkstrauertag selbst zeugt davon. Er wurde seit 1922, auf Vorschlag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der 1919 gegründet worden war, begangen.

Wie konnte es geschehen, dass sich schnell nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Staaten Europas autoritäre und diktatorische Regime etablieren konnten, darunter das der Faschisten in Italien, der Falangisten in Spanien, der Kommunisten in der Sowjetunion und eben der Nationalsozialisten in Deutschland?

Die Nazis begannen sofort nach ihrer Machtübernahme, den Angriffs- und Vernichtungskrieg zu planen, den sie dann 1939 mit dem Überfall auf Polen auslösten. Die Opfer des Ersten Weltkriegs hielten sie und die vielen Deutschen, von denen sie unterstützt wurden, davon nicht ab. Im Gegenteil: Sie nahmen die Gefallenen als Rechtfertigung für eine „Vergeltung“, verklärten sie zu Helden und schufen so eine mentale Basis für ihre kriegerische Rhetorik, der der Krieg dann auf dem Fuß folgte.

Das mahnt uns heute, aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken, ihren Tod aber in einen historischen Kontext zu stellen und die Lektion der Geschichte zu lernen und zu lehren. Nur Versöhnung, Kooperation und Verständigung schaffen einen dauerhaften Frieden. Glücklicherweise durften wir diese Erfahrung in den letzten gut 70 Jahren, der längsten Friedensperiode in der europäischen Geschichte, machen. Diese Errungenschaft müssen wir bewusst machen und bewahren, gerade in Zeiten, in denen der Chauvinismus zunimmt und nationalistisch-fremdenfeindliche Parolen in den öffentlichen Raum vordringen.


»Ein Tag des Gedenkens, aber auch der kritischen Reflexion – für ein Miteinander in Europa.«
WOLFGANG SCHNEIDERHAN


Der Volkstrauertag ist ein Tag des Gedenkens, der stillen Einkehr und der Trauer, aber er ist auch ein Tag der kritischen Reflexion, der Immunisierung gegen billige Parolen, die Menschen anderer Herkunft, Religion oder Hautfarbe abwerten. Er ist ein Tag des Engagements für ein gelingendes Miteinander in Europa.

Am Volkstrauertag schauen wir zurück auf die Schrecken des Krieges, aber auch voraus auf die Bewahrung von Frieden, Demokratie und Menschenrechten. Das bringt uns keinen einzigen Gefallenen zurück, aber es kann verhindern, dass die nächste Generation wiederum Gefallene beklagen muss.