Der Volkstrauertag ist der Erinnerung an die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaften gewidmet, er mahnt auch in der Gegenwart zum Frieden. In fast jeder Gemeinde Deutschlands treffen sich Menschen an diesem Novembertag, um der Kriegstoten zu gedenken und - notwendiger denn je - damit ein Zeichen für den Frieden zu setzen.

Wie in allen anderen am Krieg beteiligten Ländern prägte bei uns in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der unmittelbare Schmerz über den Verlust der eigenen Angehörigen das Gedenken. Die politische Dimension und auch die Frage von Schuld und Verantwortung wurden wohl immer wieder angesprochen. Doch blieben diese Stimmen zunächst leise. Es dauerte lange, bis die deutsche Gesellschaft zur Erkenntnis fand, dass in das gemeinsame Erinnern und Gedenken nicht nur die eigenen Toten, sondern auch die der ehemaligen Gegner gehören. Noch schmerzhafter war die Einsicht zu erlangen, dass die eigenen Angehörigen ihr Leben für ein verbrecherisches Regime verloren, dass auch einfache Soldaten in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt waren.

Wir haben uns mit dem bedrückenden, ja bedrohlich erscheinenden Wissen auseinandersetzen müssen, dass sehr viele Menschen unter den Bedingungen des Krieges und der Gewaltherrschaften nicht nur zu Untaten genötigt und gezwungen werden konnten, sondern diese gedankenlos oder gar mit besonderer Gewissenhaftigkeit bis zur letzten Konsequenz ausübten.

Erinnerung und Gedenken heute können und dürfen nicht auf die Toten der eigenen Familie, des eigenen Landes begrenzt werden, nicht auf tote Soldaten, nicht auf die Toten der Weltkriege und damaligen Diktaturen. Die deutsche und die europäische Teilung nach 1945 haben viele weitere Opfer gefordert. Heute ist Europa, anders als früher, kein „Kontinent des Krieges" mehr. Aber immer noch erschüttern uns Gewaltausbrüche, bewaffnete Konflikte, die Einschränkung der Freiheit und das leichtfertige Spiel mit demokratischen Errungenschaften. Menschen leiden und sterben, Angehörige bleiben zurück. Seit ihrer Flucht aus Krieg und Gewaltherrschaft leben viele Menschen anderer Nationen mit uns in Deutschland. Viele von ihnen haben ihre Nächsten verloren und müssen grausame Erlebnisse und Erfahrungen bewältigen. Wir beziehen sie in unseren Volkstrauertag mit ein. Die Einbeziehung der aktuellen Geschehnisse in unser Erinnern und Gedenken mahnt uns an unser aller Aufgabe: aus den Lehren der älteren und jüngeren Geschichte die Fähigkeit zur Versöhnung und die Instrumente zur Förderung eines gerechten Friedens, zur Wahrung der Menschenrechte, zur Wahrung gerechter Wohlfahrt für alle zu entwickeln. Nur so können die Ursachen für Krieg und Gewalt, Flucht und Vertreibung wirksam bekämpft werden.

Damit sind wir auch aufgefordert, über den Tellerrand des eigenen, des nationalen Gedenkens hinauszuschauen. Die Menschen dieser anderen Kulturkreise trauern, erinnern und gedenken anders. Wir respektieren das und suchen den Dialog um zu lernen. Wissen fördert Verstehen, Verstehen fördert Verständnis, Verständnis ist die Basis eines ehrlichen Austausches - das sind die Schritte auf dem langen, nie endenden Weg zu Versöhnung, Verständigung und Frieden. Davon sind wir zutiefst überzeugt. Dies hat das neue Leitbild des Volksbundes im vergangenen Jahr bekräftigt.

Das Wissen um die Geschichte, die Informationen über unheilvolles Geschehen auch in der Gegenwart verpflichten uns, die Stimme zu erheben gegen die Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts in allen Teilen der Welt. Der Volkstrauertag ist dafür besonders geeignet. Er ist nicht mehr nur der Tag, an dem Menschen erinnernd und trauernd zurückblicken. Es ist ein Tag, der uns erinnert, dass der Frieden nicht selbstverständlich ist - und dass die Arbeit für den Frieden keineswegs ein Auftrag allein an die staatliche Politik sein kann.

Lassen Sie uns aus diesem Tag etwas machen.

Wolfgang Schneiderhan
Präsident des Volksbundes Deutsche
Kriegsgräberfürsorge e.V.